Sonja Romei
Wer teilt mit mir?
„Grün oder Orange, is` wie beim Twinni, nur ohne Geschmack“ hallt es in oberösterreichischem Dialekt durch die viel zu warme Schwimmhalle der Kuranstalt.
Anscheinend war das einer von Herrn Ferdinands Jokes, denn einige finden es einvernehmlich witzig und zwar so, als hätten sie es schon öfters witzig gefunden. Sichtlich erfreut über diesen bereits vertrauten gemeinsamen Humor, stellen sich alle in Reih und Glied an, um die Schwimmnudel in der Farbe ihrer Wahl in Empfang zu nehmen wie die Hostie in der Kirche. Na, hoffentlich bekomme ich eine.
Als Kind „ohne Bekenntnis“ hatte ich zwei, dreimal versucht mich in die Reihe der Hostienempfänger*innen zu schummeln. Der Pfarrer erkannte mich jedoch jedes Mal als Ungetaufte – woran weiß ich bis heute nicht – und entließ mich aus der Reihe.
Nur einmal hatte es fast geklappt. Als der Pfarrer die Oblate jedoch hochhob „Der Leib und das Blut Christi“ nuschelte und seine Augen, als er mich ansah, schmäler wurden, weigerte ich mich den Mund zu öffnen und trat schließlich ohne Amen zur Seite.
Danach hatte ich nie wieder das Bedürfnis, die Klasse zum Gottesdienst zu begleiten.
Der Vorturner Herr Ferdinand verteilt die bunten Schwimmnudeln am Beckenrand an die achtköpfige Gruppe. Man erkennt sogleich, wer zum ersten Mal an der Wirbelsäulengymnastik teilnimmt. Ich wähle Orange. Wie damals beim Twinni.
Dieses freiwillige Teilen des Twinni. Selten hatte Teilen für uns Kinder etwas so Freundschaftliches ohne jeglichen Beigeschmack des „Abgeben Müssens“, der Gier nach Mehr oder der unmittelbar darauffolgenden Reue sich womöglich falsch entschieden zu haben.
Im Sommer 1981 hat sich manch kindliche Ferienfreundschaft daran festgemacht oder bewiesen. Manch Konstellation. Oder auch kurzfristige Verliebtheit. Okay, das vielleicht nicht, aber wäre durchaus denkbar, denn der Moment des Teilens eines Twinni, mit dieser scheinbar einfachen Einigung darüber, wer nimmt welche Hälfte und wer darf das gemeinsame Eis auseinander brechen, um dann nebeneinander im Schatten zu sitzen mit dem einzigen Vorsatz des Tages diese Eishälfte gemeinsam zu genießen, das war schon auch eine besondere Art des Zugeständnisses, der Verbundenheit.
Gut, es lag vielleicht schon auch am jungen Alter, dass man sich noch nicht von den tagtäglichen Ereignissen des komplexen Weltgeschehens den Genuss dieses Moments nehmen ließ. Voller Hingabe. Im Jetzt. Herrlich.
„Erst rein gehen, wenn‘s der Herr Ferdinand sagt“, weist mich die etwas resche, geschätzt 70 jährige Lady mit silbrig-violettem Haar auf einzuhaltende Abläufe hin. Abläufe die ich als Neuling wohl noch nicht kennen kann. „Und aufpassen, rutschig“, beendet sie, wahrscheinlich gutgemeint, schmallippig ihre appellartige Anweisung. Sie ist wohl schon länger hier. Hochkonzentriert tritt sie, aus ihren orangefarbenen Badeschlappen auf den nassen Fliesenboden.
Orange, ich würde definitiv wieder Orange nehmen, wenngleich kaum mit dieser Lady teilen, nicht nur, aber auch aus Angst vor Unvereinbarkeit des Farb- und Geschmacksspektrums.
Herr Ferdinands Pfiff, so schrill, dass mir gleich vor Schreck die Schwimmnudel aus der Hand rutscht, erinnert mich sofort an Prof. Wilson. Turnunterricht 1. Klasse Gymnasium.
Ihr Pfiff war jedes Mal aufs Neue so durchdringend und sorgte in der Sekunde für Ruhe und Aufmerksamkeit im wilden ungleichen Haufen der Klasse.
Ab dieser Schulstufe begann es, dieses Wahrnehmen von Ungleichheiten. Vielleicht sogar schlagartig, ich weiß es nicht mehr. Ich weiß nur, die davor noch so einfachen Beweggründe miteinander im Sandkasten, mit Lego oder in den Auwäldern zu spielen, sich gemeinsam heute in diese, morgen in jene Phantasiewelt zu begeben, waren gefühlt frei von Bewertungen des jeweiligen Backgrounds einer Familie, dem Beruf oder Bildungsstand der Eltern, der Religion oder anderen Zuordnungen. Ab der 1.Klasse Gym war es, als wären wir, manche früher, andere wie ich unwesentlich später, angekommen in dieser prä-erwachsenen Welt des Zuordnens, des Aussuchens, des Aussortierens, des sich selbst und andere mehr oder weniger passend Findens. Und irgendwie kommt man da schwer bis kaum wieder raus. Nur sagt einem das niemand.
Ich wollte eines Tages unbedingt so pfeifen können wie Prof. Wilson. So sehr, dass ich es heimlich übte, raus kam meist nicht mehr als ein tonloser Lufthauch. Ich gab nicht gleich auf. Erst als Cousin Franz, drei Kopf größer als ich, mich verlachte. Franz konnte es. Ganz ohne Anstrengung, als gäbe es nichts Leichteres als das. Nicht so laut wie Prof. Wilson, aber immerhin.
Im Gänsemarsch wankt die Gruppe, ausgebremst von der vorsichtigen Anführerin, die jetzt ihr silberviolettes Haar unter einer Badehaube verbirgt, ins pipiwarme Chlorwasser. Den naheliegenden Kontext dieses Gedankens muss ich sofort wieder verdrängen.
„Duscht sich denn da niemand ab?“
Der circa 40-jährige Bartträger hinter mir kichert mit unerwartet hoher Stimme über meine ehrliche, leise ausgesprochene Frage. Dabei war es gar kein Witz.
Na gut. Nicht weiter fragen, einfach mitmachen. Was soll‘s.
Nochmal ein lauter Pfiff von Herrn Ferdinand. Ich würde es immer noch gerne beherrschen, dieses laute Pfeifen. Einfach so die sofortige Aufmerksamkeit eines ganzen Turnsaals, oder in diesem Fall einer Schwimmhalle auf mich ziehen, um dann was ganz Wichtiges zu sagen, anzuweisen, irgendwas zu machen. Egal was. Keine Ahnung, wozu ich das nutzen würde.
Während wir die Schwimmnudeln unter Wasser drücken und langsam wieder hochsteigen lassen, um unsere Schultern zu kräftigen, fällt mir ein, dass ich als Kind diesen Pfiff sehr gerne eingesetzt hätte. Dieses eine erschreckend laute Pfeifen, das einen noch Minuten später in den Ohren piept. Zu Hause redeten nämlich fast immer alle gleichzeitig. Es war kaum möglich sich Gehör zu verschaffen. Man konnte nur punkten, indem man entweder lauter war als die anderen oder den seltenen stillen Moment, die Zäsur, erwischte, um etwas zu fragen oder zu erzählen, das einen beschäftigte.
Manch eines von uns Geschwistern hörte für einige Jahre ganz auf zu reden, da Frage oder Erzählung ohnedies meist im Äther der familiären Kakophonie untergingen.
Einer meiner Cousins und ich, wobei, ich glaube er war gar kein Cousin. Aber irgendwie wurden bei uns alle möglichen Leuten, die ein und ausgingen als Onkel, Tante, Cousin oder Cousine deklariert, jedenfalls, einer dieser Cousins und ich lebten eine Zeit lang unter dem Sofatisch meiner Großmutter.
Soll heißen, wir verbrachten viel Zeit unter diesem Couchtisch mit der Kurbel dran, bis wir eines Tages nicht mehr darunter passten. Später schien überhaupt alles winzig zu sein, was lange Zeit aus Kindersicht die halbe Welt bedeutete:
Das großelterliche Wohnzimmer des nicht unterkellerten 60er-Jahre-Hauses, in dem man sich regelmäßig mit all den echten und falschen Tanten, Onkeln etc. zum Kaffeeklatsch traf. Zum Filterkaffeeklatsch genauer gesagt. Mit Milchpulver oder auch Maresi als Variante. Maresi, diese dickflüssige gelbliche Haltbar-Milch, die geschmacklich anfangs gewöhnungsbedürftig war, dann zum vertrauten Nachmittagsritual gehörte wie der darauffolgende Supermarkt-Eierlikör, der das Ganze süß und alkoholisch abrundete und die dorfgossipartigen Gespräche auflockerte. Die Stimmen überschlugen sich wellenartig, die Witze rutschten nicht selten immer weiter unter die Gürtellinie der gerade noch als Ironie zu bezeichnenden Geschmacklosigkeit.
Wir Kinder verstanden nur die Hälfte, inhaltlich als auch akustisch, aber so viel war klar:
Da war richtig was los und wir waren mittendrin und genossen, dass man uns ab und an über den Kopf strich, auf einem Schoß hopsen ließ und dass unsere Anwesenheit mit der Zeit und dem Alkohol mehr und mehr vergessen wurde, wodurch wir auch mithören durften, was definitiv nicht für unsere Kinderohren gedacht war. Auch wenn wir kaum verstanden, worum es ging, der Tonfall war eindeutig nicht für uns gedacht und damit interessant. Der Subtext war lesbarer als der gesprochene Text.
„Jetzt die Grünen zuerst“ Herr Ferdinand hat gesprochen. Alle vier grünen Schwimmnudeln bewegen sich um ihre eigene Achse nach links und schwimmen wie von Sinnen am Platz. Nicht hinterfragen, einfach mitmachen. Denk an deine Wirbelsäule.
Ich schwimme mit den anderen drei um meine rechte Achse. Ein Wasserballett der angeknacksten Wirbelsäulen. Ich glaube, ich gönne mir danach ein Twinni. Mal sehen, mit wem ich es teilen könnte… Ich versuche mir den Bartträger mit einer grünen Twinnihälfte vorzustellen. Ja, das könnte klappen.