Michael Knoll
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Eine Frau quält sich am Fahrrad einen Berg hinauf. Die Sonne brennt, und obwohl sie Lichtminuten entfernt ist, kommt ihre Hitze beinahe ohne Umweg bei der Frau an. Die Anstrengung, den Berg mit dem Fahrrad zu bezwingen, würde reichen, um zu schwitzen, die Sonne kippt den Schweißausbruch endgültig über die Grenze, wo man noch sagen könnte „Nicht so schlimm“. Ein Schranken, der die Straße blockiert, die die Frau gerne weiter hinauf radeln würde, stoppt die Fahrt.

Frau: Hallo?

Der Schranken: Bitte?

Frau: Darf ich bitte weiter?

Der Schranken: Weiter was?

Frau: Na fahren!

Der Schranken: Wofür?

Frau: Fürs Rauffahren.

Der Schranken: Wohin?

Frau: Rauf!

Der Schranken: Aber wieso wollen’S rauffahren.

Frau: Weil ich kann.

Der Schranken: Geht net.

Frau: Was geht net?

Der Schranken: Haben’S a Ticket? Müssen’S online.

Frau: Ich möchte nicht online. Ich möchte hier und jetzt.

Der Schranken: …

Die Frau seufzt. Sie möchte dem Schranken zu verstehen geben, dass sie mit dieser Antwort und dieser Situation wirklich unzufrieden ist. Sie sieht es als ihr Recht an, immer und überall zu machen, was sie möchte, was daran liegt, dass die letzte Person, die der Frau gesagt hat, dass sie nicht die einzige Person auf der Erde ist, die etwas möchte, sich zu Weihnachten vor drei Jahren unfreiwillig das Leben genommen hat. Die Person wusste, dass der Karpfen vermutlich nicht mehr gut ist, aber entschied sich trotzdem, eine Magenvergiftung mit Todesfolge zu riskieren. „Immer noch besser als…“ waren ihre letzten Worte.

Frau: Haben’S was zu trinken?

Der Schranken: Wasser?

Frau: Wie bitte?

Der Schranken: Ob Sie ein Wasser haben wollen.

Frau: Ich habe aber Durst.

Der Schranken: Durst? Bei der Hitz?

Frau: Na, wann sonst?

Der Schranken: Also Wasser hätt ich.

Frau: Wasser hab ich selber.

Der Schranken: …

Die Frau seufzt wieder. Sie ist, wie immer, der Meinung, dass ihr Seufzen alles zum Ausdruck bringt, wofür ihr die Worte fehlen. Nicht nur beim Schranken, der als eben dieser von Haus aus schlecht aufgestellt ist, subtile Kommunikation wahrzunehmen, stößt das Seufzen auf taube Ohren. Allerdings weiß die Frau nicht, dass der Schranken durch eine gewisse Übung bereits weiß, was die Frau denkt und möchte und wie sich der Rest des Gesprächs entwickeln wird. Aber der Schranken ist geduldig.

Frau: Na, und jetzt?

Der Schranken: Foah weida. Oben bitte net schreien. Und net weinen.

Frau: Wieso sollt ich leicht weinen?

Der Schranken: Sie sind zum ersten Mal hier?

Frau: Na, wieso sollt ich sonst rauf wollen?

Der Schranken: Stimmt.

Der Schranken gibt den Weg frei. Die Frau setzt sich aufs Rad, tritt in die Pedale. Sie fährt los, ihre schweißnasse Hose verursacht ein quietschendes Geräusch auf dem Sattel. Der Zufall will es, dass dieses Quietschen im Tandem mit dem Krächzen der völlig desolaten Kette des kaum noch als funktionstüchtig zu bezeichnenden Fahrrads der Frau einen Klang erzeugt, der einen zufällig vorbeifliegenden Falken dazu animiert, es doch noch mit dem in seiner Wahrnehmung sehr seltsamen Weibchen derselben Gattung zu versuchen, wodurch diese Falkenart quasi in letzter Stunde vor dem sicheren Aussterben bewahrt wird.

Als wüsste der Schranken von dieser glücklichen Fügung, beschließt er, sich zu betrinken. Allerdings trifft er diesen Entschluss unabhängig von vögelnden Viechern, seine Schicht ist zu Ende und der ans Schichtende anschließende Saurausch hat Tradition. Schließlich hat er es auch heute geschafft, seinen Alkoholvorrat vor Tourist*innen zu verstecken und sie mit Wasser abzuwehren und zur Weiterfahrt zu animieren. Pünktlich 1,5 Stunden nach seinem ersten Getränk, und es sind eigentlich immer 1,5 Stunden, denn so lange dauert die Fahrt von dort, wo er ist, hinauf auf dem Berg, hört er den Schrei, den er täglich erwartet. Die Frau ist oben angekommen und beginnt zu verstehen, wieso die Google-Bewertungen dieses Bergs trotz malerischer Natur nur durchschnittlich gut sind. Der Schranken grinst, der Schrei ist nicht sein Problem, die Frühschicht muss sich darum kümmern beziehungsweise um die Ursache für den Schrei, die Schicksale von Menschen interessieren den Schranken nicht. Er ist schließlich ein Schranken.